Wenn Erstklässler nicht mehr zur Schule gehen wollen
Hannover – Auf den ersten Schultag hatte sich Tim riesig gefreut. Doch die Euphorie war schnell verflogen. Jeden Abend und jeden Morgen klagte der damals Sechsjährige über Bauchschmerzen. Nach einigen Monaten kamen Kopfschmerzen und Übelkeit dazu.
«Wir haben gemerkt, dass er sich immer mehr zurückzieht und trauriger wird», sagt seine Mutter Claudia Sunder, die Tim oft vor dem Unterrichtsende von der Schule abholen musste.
Die Eltern suchten das Gespräch mit der Klassenlehrerin. «Sie hat sich aber nie richtig Zeit genommen», sagt Sunder, deren Name ebenso wie der ihres Sohnes ein anderer ist. Die Grundschule in einer niedersächsischen Kleinstadt war mit der Situation überfordert. Am Ende ging Tim gar nicht mehr zum Unterricht.
Wenn von Schulschwänzern die Rede ist, denken wohl die meisten an Jugendliche in weiterführenden Schulen, die lieber im Bett bleiben oder mit Freunden abhängen. Tatsächlich gibt es Schulverweigerer bereits ab der ersten Klasse. Die Gründe für das Fernbleiben sind unterschiedlich.
Manche haben soziale Ängste oder Erfahrungen mit Mobbing gemacht. Andere sind überfordert. «Leistungsängste beginnen schon in der ersten oder zweiten Klasse der Grundschule», sagt Klaus Seifried, der als Schulpsychologe und auch als Lehrer in Berlin tätig war. «Schuldistanz war lange ein Tabuthema», erklärt er. Inzwischen schauten Schulen und Behörden genauer hin.
Zahlen über das Ausmaß der Schulverweigerung gibt es nicht, die Kultusministerkonferenz führt keine bundesweite Statistik. In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts aus dem Jahr 2003 heißt es, dass drei Prozent aller Schulschwänzerkarrieren bereits im Alter von sechs bis acht Jahren begönnen, zwölf Prozent im Alter von neun bis elf.
Statistiken dokumentierten das Problem nur unzureichend, glaubt Schulpsychologe Seifried. «Teilweise wird das Fernbleiben von den Eltern oder durch ein Attest entschuldigt», erklärt er. Aufgabe der Schule sei es, frühzeitig das Gespräch mit den Eltern zu suchen und Schulpsychologen einzuschalten. «Für das Verhalten des Kindes gibt es immer eine Ursache», sagt Seifried.
Um Schüler wieder zurückzugewinnen, sei es wichtig, ihnen Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Auch eine gute Beziehung zum Klassenlehrer oder zur Klassenlehrerin und zu den Mitschülern sei entscheidend. «Das Kind muss das Gefühl haben: Mein Lehrer mag mich, ich habe Freunde in der Klasse», sagt Seifried. Zugleich müsse die Lehrkraft Regeln und Orientierung vermitteln.
Oftmals beginne das Problem aber bei den Eltern, weiß Stefanie Höfer, Leiterin des Beratungszentrums
«Rebuz Bremen-West», das Familien in sozial benachteiligten Stadtteilen unterstützt. Die Eltern hätten beispielsweise überhöhte Leistungserwartungen an ihr Kind. Oder sie hätten es verpasst, den Nachwuchs auf Trennungssituationen vorzubereiten. Oder sie hätten selbst keine guten Schulerfahrungen gemacht und gäben ihre Erfahrungen an die Kinder weiter, sagt Höfer.
Auch bei Familie Neumer fingen die Probleme bereits in der Grundschule an. Später blieb ihr Sohn dem Unterricht über Monate fern und isolierte sich sozial. Trotz Überforderung redeten die Neumers, die eigentlich anders heißen, aus Scham nicht offen über die Situation. «Wir hatten Angst zu hören: Wie kann es sein, dass euer Kind euch auf der Nase herumtanzen kann.» Wirksame Unterstützung gab es erst, als sie sich ans Jugendamt wendeten. Heute hat ihr Sohn einen Schulabschluss.
Auch Familie Sunder brauchte lange, um gegenzusteuern und die Gründe für Tims Verhalten zu finden. «Wir waren gerade erst umgezogen, wir dachten, das renkt sich ein», sagt Claudia Sunder. Die Klassenlehrerin machte die Eltern verantwortlich.
Die Sunders probierten alles aus: Sie machten klare Ansagen, sie gingen mit ihrem Sohn zur Psychologin, drohten mit Sanktionen, am Ende machten sie aus lauter Verzweiflung Bestechungsversuche: Lego gegen Schulbesuch. Manchmal lief es so bei Tim ein paar Wochen gut. Aber eines Tages kam er nach Hause, warf sich weinend auf den Boden und sagte zu seiner Mutter: «Die Schule macht mich krank.» Er zeigte Anzeichen einer Depression.
Ein IQ-Test brachte Klarheit: Der Junge ist hochbegabt. Er war immer schon besonders gut in Mathe, im Unterricht wollte er schnell vorankommen – aber die Lehrerin bremste ihn. Da verlor er die Lust. Wäre die Hochbegabung früher festgestellt worden, hätte vieles vielleicht anders laufen können. Claudia Sunder sagt: «In Grundschulen gibt es gute Konzepte für Kinder mit Förderbedarf, aber keine, wenn sie Dinge deutlich schneller auffassen als andere.»
In der dritten Klasse forderte die Schulleitung die Eltern auf, für Tim eine andere Schule zu suchen. Seit dem Sommer geht er in die vierte Klasse einer Schule in der Nachbarstadt. Dort ist das Lehrerkollegium bereit, auf Tims Besonderheiten einzugehen. Er hat einen Assistenten, der ihn in den Unterricht begleitet. «Tim ist wie ausgewechselt», sagt seine Mutter. Nach drei Jahren ist in der Familie Ruhe eingekehrt.
Fotocredits: Jens Kalaene
(dpa)