Deutschland fällt beim Lesen zurück
Berlin – «Es ist eine einzige Schande», stöhnt Wilfried Bos. Seit 16 Jahren untersucht der Dortmunder Bildungsforscher, wie gut Deutschlands Grundschüler im internationalen Vergleich abschneiden.
Die neue Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung
(IGLU) zeigt ernüchternde Trends: Die Schulen verhelfen den Kindern aus sozialschwächeren Elternhäusern heute noch weniger zum Erfolg als 2001. Noch mehr Kinder können zum Ende der Grundschule nicht so gut lesen, dass sie kleine Texte auch wirklich durchdringen.
Dabei ist auf den ersten Blick alles gar nicht so schlimm. Im Schnitt sind die Leseleistungen der Viertklässler seit 2001 fast stabil geblieben. Es gibt zwar mehr Kinder mit Migrationshintergrund, somit also auch mehr aus ärmeren Familien, die nicht so fest in die Gesellschaft eingebunden sind. Trotzdem liegen die Leistungen weiter über dem internationalen Mittelwert. Aber: Deutschland fällt zurück. 2001 waren nur vier Staaten besser – 2016 waren es zwanzig.
Der Anteil der Viertklässler, die nicht richtig lesen können, ist seit 2001 um 2 Prozentpunkte auf 18,9 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen. 2011 waren es noch 15,4 Prozent. In Österreich waren es 2016 nur 15,6 Prozent, in Schweden 12,2.
In Deutschland hat also fast jeder Fünfte nach der Grundschule Probleme mit dem Lesen. Das heißt nicht, dass die Betroffenen keine Sätze lesen können. Aber sie scheiterten an Verständnisfragen. So sollten sie zum Beispiel eine kleine Geschichte über ein Mädchen lesen, das Hühner betreut.
Abends muss das Kind die widerspenstigen Tiere in den Käfig treiben – nicht ganz einfach. Doch alle in der Familie müssen Aufgaben erledigen, da hat das Mädchen noch die leichteste. Seine Mutter meint: «Ich hätte gerne deine Aufgabe.» Den Schülern lag nun die Frage vor, warum die Mama das sagt. Von vier Antworten ist die richtige: «Marie soll verstehen, dass Mama schwere Aufgaben hat.»
Wer solche Tests in der vierten Klasse nicht besteht, hat es laut Bos auch später schwer: «Das wird durchgereicht, das sind die Kinder, die in den Klassen fünf, sechs, sieben auch nicht weiterkommen.»
Allerdings: Es gibt auch mehr Viertklässler mit besten Leseleistungen – ihr Anteil stieg um 2,5 Punkte auf 11,1 Prozent. Sie können nach der Lektüre einen ganzen Text richtig einordnen und interpretieren.
Sieben von zehn Kindern haben Spaß am Lesen – und stecken zumindest ein- bis zweimal wöchentlich ihre Nase auch außerhalb der Schule in ein Buch. Mädchen etwas häufiger als Jungen. Aber: 2001 waren es noch gut 5 Prozentpunkte mehr.
Besonders ernüchternd: Deutschland hat es nicht geschafft, Kindern aus bildungsferneren Elternhäusern bessere Schulchancen zu geben. So ist der Vorsprung von Kindern aus Familien mit mehr als 100 Büchern gegenüber Familien mit weniger Büchern in Deutschland höher als in fast allen 47 Vergleichsländern. Nur in Bulgarien und der Slowakei sind Auswirkungen der sozialen Unterschiede auf die Bildungschancen genauso stark, in Ungarn sogar etwas stärker.
Für Deutschland meinen die Forscher: Kinder aus Familien mit wenig Büchern hinken den Kindern aus Familien mit vielen Büchern in ihren Leistungen rund ein Lernjahr hinterher. Auch bei der Chance auf eine Gymnasialempfehlung kommt es oft aufs Elternhaus an. Kinder aus oberen Schichten liegen dabei im Vergleich zu 2001 heute sogar noch deutlicher vor den Kindern aus niedrigeren Schichten. «Ganz offensichtlich verschleudern wir da Potenziale», sagt Bos.
Susanne Eisenmann ist Kummer bereits gewohnt. Erst im Oktober hatte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und baden-württembergische Ressortchefin ähnliche Ergebnisse präsentieren müssen. Damals zeigte die Studie IQB-Bildungstrends, dass die Viertklässler in Mathematik, beim Zuhören und in Rechtschreibung binnen fünf Jahren in Deutschland im Schnitt schlechter geworden sind – besonders deutlich in Eisenmanns Heimat Baden-Württemberg.
Die CDU-Politikerin redet nicht herum: IGLU zeige einen Rückschritt, meint sie, der «Handlungsbedarf» sei groß. Die Vertreterin der Bundesregierung, Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen, wertet IGLU als «Weckruf». Gefordert sieht Eisenmann auch die Eltern: «Man kann nicht von Kindern verlangen, dass sie öfter zu einem Buch greifen, wenn man selbst regelmäßig am Smartphone herumspielt.»
Einig sind sich die Politikerinnen in einem: Zuviel sei mit «strukturellen Reformen» herumexperimentiert worden. Was sie genau meinen, sagen sie nicht. Ein Beispiel für so eine Reform: das Abitur nach 12 statt nach 13 Jahren. Zu kurz gekommen ist laut Eisenmann: «Wie sieht qualitätsvoller Unterricht tatsächlich aus?»
An Ideen mangelt es nicht. Bildungsforscher Bos fordert mehr Ganztagsschulen, die nicht nur reine Betreuungseinrichtungen sind – und eine bessere Bezahlung der Lehrer. Unterrichtsmodelle sollten sich daran ausrichten, was sich international bewährt habe. So meinen Experten in der IGLU-Studie auch: Kinder sollten nicht schon nach der vierten Klasse auf die verschiedenen Schulformen verteilt werden.
Wie Eltern Kinder unterstützen können:
Lesen ist ein hochkomplexer Vorgang und für viele Kinder alles andere als einfach. Eltern können ihren Nachwuchs aber dabei unterstützen – nicht nur ganz zu Anfang, sondern mit diesen Tipps sogar bis zum Ende der Grundschulzeit:
– Keinen Druck aufbauen: Lesen sollte Spaß machen und nicht zum Zwang werden. Stephanie Jentgens, die bei der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid den Fachbereich Literatur leitet, empfiehlt daher vor allem: ruhig angehen lassen. Interessieren sich Kinder schon im Kindergarten für Buchstaben, können Eltern das unterstützen. Gezielt darauf hinarbeiten sollten sie aber nicht.
– Lange vorlesen: Wer als Kind regelmäßig etwas vorgelesen bekommt, hat später in der Schule weniger Probleme mit dem Lesen. Die Stiftung Lesen rät daher: früh, viel und lange vorlesen – auch dann, wenn Kinder schon selbst lesen können. Denn Anfänger schaffen dann nur sehr einfache Texte, für spannende und lustige Geschichten brauchen sie einen Vorleser.
– Die Rollen tauschen: Auch und gerade Väter müssen vorlesen. Denn zu oft bleibt das Vorlesen an den Müttern hängen, auch in Kita oder Schule übernehmen das meistens Frauen. Kinder könnten deshalb den Eindruck bekommen, dass Lesen nur etwas für Mädchen ist, warnt Christine Kranz von der Stiftung Lesen. Umgekehrt kann ein vorlesender Papa ein wichtiges Rollenvorbild für Jungs sein.
– Abwechselnd lesen: Es gibt Bücher, die Erwachsene und Kinder im Wechsel lesen können – mit einzelnen Passagen, die extra groß gedruckt sind. So kann ein Kind erstens selbst lesen üben, zweitens aber trotzdem in eine längere Geschichte abtauchen.
– Kinder wählen lassen: Was gelesen wird, entscheiden die Kinder – und nicht die Eltern. Denn auch mit Comics oder Sachbüchern lässt sich Lesen lernen, erklärt Kranz. Eltern sollten allerdings darauf achten, dass der Schwierigkeitsgrad zum Kind passt. Lese-Anfänger brauchen zum Beispiel große Schrift, einfache Wörter und viele Bilder, die beim Verstehen der Geschichte helfen.
Fotocredits: Felix Heyder
(dpa)